Betrieb

Krebserzeugende Arbeitsstoffe: Besserer Schutz

In der EU sterben jährlich etwa 1,2 Millionen Menschen an Krebs. Davon sind etwa 65.000 bis 100.000 Fälle darauf zurückzuführen, dass ArbeitnehmerInnen bei ihrer Arbeit krebserzeugenden Stoffen ausgesetzt waren. Das sind etwa 20-mal so viele Todesfälle wie in Folge von Arbeitsunfällen. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Fälle wurden allein durch Asbest ausgelöst. Asbest ist heute praktisch in allen Anwendungsbereichen verboten. Aber noch immer kommt es zu neuen Krebserkrankungen, die auf einer Exposition gegenüber Asbest vor vielen Jahren beruhen. Denn zwischen dem Kontakt mit krebserzeugenden Stoffen und dem Ausbruch der Krankheit kann sehr viel Zeit verstreichen. Diese Zeitspanne wird als Latenzzeit bezeichnet. Sie beträgt in vielen Fällen zwischen 30 und 50 Jahren. 

Das bedeutet, dass eine Krebserkrankung, die heute diagnostiziert wird, auf eine Exposition gegenüber einem krebserzeugenden Arbeitsstoff in den 1970er Jahren zurückgehen kann. Dies erklärt, warum die Dunkelziffer bei den berufsbedingten Krebserkrankungen sehr hoch ist. Denn in vielen Fällen ist gar nicht mehr bekannt, welche Chemikalien seinerzeit am Arbeitsplatz verwendet wurden.

Schwierige Beweislage

Wird bei älteren ArbeitnehmerInnen eine Krebserkrankung diagnostiziert, so fällt nämlich der Verdacht nur in bestimmten Fällen auf die berufliche Exposition. Erkrankt etwa eine Person, die stets in einer Tischlerei gearbeitet hat, an einem Adenokarzinom im Nasenbereich, liegt Holzstaub als Verursacher nahe. Das Auftreten eines Mesothelioms (einer Krebserkrankung des Rippenfells) ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Folge einer Exposition gegenüber Asbest. Tritt bei einem früheren Bergmann, der bereits an einer Staublunge erkrankt ist, noch Lungenkrebs hinzu, so muss davon ausgegangen werden, dass Quarzstaub der Auslöser ist.

In anderen Fällen aber ist die Lage weniger deutlich. Wer erinnert sich schon, dass das Lösungsmittel, das im metallverarbeitenden Betrieb vor 40 Jahren zur Entfettung verwendet wurde, Trichlorethylen enthielt und daher als Auslöser für einen Nierenkrebs in Frage kommt? Wer weiß heute noch, welche Chemikalien in der Textilfabrik eingesetzt wurden, und denkt daran, dass sie das Harnblasenkarzinom verursacht haben können, das gerade diagnostiziert wurde? Noch schwerer wird das Forschen nach Ursachen, wenn ArbeitnehmerInnen früher in einem anderen Staat gearbeitet haben.

Für die Betroffenen geht es darum, die bestmögliche medizinische Versorgung zu bekommen. Aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt auch finanziellen, ist eine Anerkennung der Erkrankung als Berufskrankheit wichtig. 

Darüber hinaus müssen die Bestrebungen im ArbeitnehmerInnenschutz aber dahin gehen, dass es gar nicht zu Krebserkrankungen durch chemische Arbeitsstoffe kommt. Prävention ist das Schlagwort. Sie besteht zu allererst darin, die Verwendung von krebserzeugenden Arbeitsstoffen zurückzudrängen. 

Gebot: Minimierung

Bei vielen Stoffen, von denen schon seit langem bekannt ist, dass sie Krebs auslösen können, sind die Verbote noch nicht so weit wie bei Asbest. Bei einigen ist darüber hinaus nicht klar, wie sie durch andere Stoffe ersetzt werden können, etwa Vinylchlorid bei der Produktion von PVC (Polyvinylchlorid). Bei einer weiteren Gruppe von Stoffen ist erst seit kurzem klar, dass sie Krebs auslösen können. So gilt etwa Formaldehyd seit kurzem als kanzerogen, wenngleich das krebserzeugende Potenzial nicht besonders hoch ist.
Die Frage stellt sich also, wie im Rahmen des ArbeitnehmerInnenschutzes krebserzeugende Stoffe reguliert werden sollen. Manche GewerkschafterInnen und ArbeitsmedizinerInnen fordern, dass an Arbeitsplätzen überhaupt keine krebserzeugenden Stoffe verwendet werden dürfen. Der Ansatz ist konsequent, führt aber zu zwei Problemen: zum Praktischen, dass dies bedeuten kann, dass die Arbeitsplätze verlagert werden in Länder, in denen das Schutzniveau geringer ist; und zum Grundsätzlichen, dass von den Ersatzstoffen, die an Stelle der bisherigen Chemikalien eingesetzt werden, nur wenig über ihre Gefährlichkeit bekannt ist.

Der Weg, den das österreichische ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) und das EU-Recht hier einschlagen, ist pragmatischer: Die Verwendung von krebserzeugenden Arbeitsstoffen ist zulässig, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Wenn mit einem anderen, weniger gefährlichen Stoff ein gleichwertiges Arbeitsergebnis erzielt werden kann, darf der krebserzeugende Stoff nicht verwendet werden. Das gleiche gilt, wenn ein anderes Verfahren möglich ist, bei dem der krebserzeugende Stoff nicht erforderlich ist. 
Für 71 krebserzeugende Arbeitsstoffe gibt es in Österreich sogenannte Technische Richtkonzentrationen (TRK-Werte). Ihre Einhaltung soll – so der Gesetzestext – das Risiko einer Beeinträchtigung der Gesundheit vermindern, kann dieses aber nicht ausschließen. TRK-Werte sind Ausdruck des technisch Machbaren: Sie entsprechen der Konzentration eines krebserzeugenden Stoffes in der Luft, wenn ein Prozess, in dem der Stoff eingesetzt wird, nach dem Stand der Technik betrieben wird. Viele der TRK-Werte wurden aber vor Jahren und Jahrzehnten zuletzt geändert; seither stattgefundene Verbesserungen der Technik haben nicht zur einer entsprechenden Senkung der TRK-Werte geführt.

Bei diesem Ansatz wird die Krebsgefährlichkeit eines Stoffes nicht berücksichtigt. Zu immer mehr Stoffen liegen Daten vor, wie hoch das Risiko einer Krebserkrankung ist, das einer bestimmten Luftkonzentration des Stoffes entspricht („Expositions-Risiko-Beziehungen“ – siehe Kasten Seite 25). Auf Grund dieser Daten zeigt sich, dass mit manchen TRK-Werten extrem hohe Krebsgefahren verbunden sind.

Auf EU-Ebene gibt es derzeit für vier krebserzeugende Stoffe Arbeitsplatzgrenzwerte, und zwar für Asbest, Benzol, Vinylchlorid und Hartholzstaub. Nach fast zehn Jahren Stillstand hat der beständige Druck der Gewerkschaften dazu geführt, dass die Liste von EU-weit verbindlichen Grenzwerten für krebserzeugende Stoffe erweitert wird. Elf Stoffe kommen neu dazu, darunter so weit verbreitete wie Quarzstaub und Chrom-VI-Verbindungen. Freilich sind die Grenzwerte immer noch viel zu hoch. 

Die ArbeitnehmervertreterInnen auf EU-Ebene setzen sich für „risikobasierte Grenzwerte“ ein. Das bedeutet, dass die Grenzwerte für verschiedene krebserzeugende Arbeitsstoffe so gewählt werden sollen, dass das zusätzliche Krebsrisiko bei allen Stoffen gleich niedrig ist. In Deutschland wurde dieses Konzept bereits umgesetzt, in Österreich sind erste vorsichtige Schritte in diese Richtung zu erkennen. Dieses neue System bedeutet, dass die technische Machbarkeit keine Rolle mehr spielen soll, sondern nur mehr die gesundheitlichen Auswirkungen eines Stoffes. 

Immer noch zu hoch

Der von der Kommission vorgeschlagene Grenzwert für Chrom-VI-Verbindungen ist viel zu hoch. Wer als ArbeitnehmerIn ein Arbeitsleben lang dieser Konzentration ausgesetzt ist, bekommt davon mit zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit Krebs. Dies ist ein viel zu hoher Wert, der noch immer die alte Philosophie der technischen Machbarkeit widerspiegelt. Einige Mitgliedstaaten – darunter Österreich – haben sich dafür ausgesprochen, dass dieser Wert möglichst bald weiter gesenkt wird. 

Freilich: der derzeit geltende Grenzwert für Chrom-VI ist in Österreich noch höher als in der neuen EU-Richtlinie. Und auch bei anderen Stoffen liegen die österreichischen Werte über dem neuen EU-Recht. Das verdeut­licht vor allem, wie sehr die derzeitigen Grenzwerte veraltet sind.

So wichtig Grenzwerte im ArbeitnehmerInnenschutz sind, so sehr verführen sie aber auch dazu zu glauben, dass alles im grünen Bereich ist, wenn sie unterschritten werden. Bei krebserzeugenden Arbeitsstoffen ist aber genau das nicht der Fall. Daher sind Grenzwerte hier eine Art Bezugspunkt, sie müssen aber immer so weit wie möglich unterschritten werden. Nur wenn hier substanzielle Fortschritte erzielt werden, wird es auch gelingen, die Zahl der arbeitsbedingten Krebserkrankungen spürbar zurückzudrängen. ¨