Schwerpunkt

Ein Recht auf Naturgenuss

Jeder Mensch hat ein Grundrecht auf Naturzugang

Bewegung in der freien Natur leistet aus medizinischer Sicht einen wesentlichen Beitrag zur physischen und psychischen Gesundheit. Naturgenuss ist ein wirksames Antidepressivum, wirkt vorbeugend gegen viele modernen Zivilisationskrankheiten und findet steigenden Zulauf. In der Pandemie wurden Wander- und Tourenausrüstung, geländetaugliche Fahrräder und Tourenschiausrüstungen und Rodeln in Rekordzahlen verkauft. Kurz: „outdoor ist in“.

Leider wird der freie Zugang zur Natur in vielfältiger Weise  behindert. Gesetzlich und behördlich verfügte Betretungsverbote und Zugangsbeschränkungen, Sperren von Grundeigentümern und Waldbesitzern finden sich in so gut wie allen Naturräumen auf unterschiedlichste Weise. Dies hat die Arbeiterkammer, den Österreichischen Alpenverein und Naturfreunde Österreich bewogen, eine Studie in Auftrag zu geben, die sich mit diesen Problemen aus juristischer Sicht befasst. Ein Ergebnis dieser Studie ist die Forderung nach einem Grundrecht auf Naturzugang. Damit soll die Rechtsposition der naturliebenden Menschen gestärkt und mehr Rechtssicherheit geschaffen werden.

Warum ein Grundrecht?

Grundrechte sind nach österreichischem Rechtsverständnis verfassungsrechtlich gewährleistete subjektive Rechte.  Grundrechte schützen fundamentale Rechtspositionen des Menschen auf der höchsten rechtlichen Stufe (Verfassung) und sie sind durchsetzbar – also keine bloß politischen Programme wie Staatsziele. Von Ausnahmen abgesehen, können Grundrechte beschränkt werden, aber nur durch ein Gesetz oder einen auf einem Gesetz basierenden Rechtsakt (Verordnung, Bescheid, gerichtliches Urteil). Allerdings dürfen solche gesetzlichen Beschränkungen nur verfügt werden, wenn sie im öffentlichen Interesse liegen, geeignet sind, dem öffentlichen Interesse zu dienen und verhältnismäßig sind.

Mit der Schaffung eines Grundrechts auf Naturzugang soll die Bewegung in der freien Natur als fundamentales Recht des Einzelnen in der Verfassung verankert und mit Durchsetzbarkeit ausgestattet werden. Natürlich wird es auch in Zukunft Beschränkungen geben (müssen), diese müssen aber gesetzlich fundiert sein. Damit kann ein wesentlicher Beitrag zur Rechtssicherheit geleistet werden. Naturzugang soll kein Gnadenakt von Grund- und Waldeigentümern sowie von Behörden sein, sondern ein fundamentales Teilhaberecht des Einzelnen am Allgemeingut Natur.

Grundrecht auf Naturzugang – Neu in Österreich

Die bestehenden Grundrechte sind traditionelle „liberale Grundrechte“, also Abwehrrechte gegen den Staat. Das neue Grundrecht würde darüber hinausgehen und auch Privaten (Grundeigentümer:innen) Duldungspflichten auferlegen. Das Grundrecht hätte also unmittelbare Drittwirkung, was es bisher (ausgenommen vom Datenschutz) in Österreich noch nie gab. 

Das Grundrecht würde auch ein aktives Tun des Staates verlangen, es würde sich einem sozialen Grundrecht nähern, ebenfalls ein Novum im österreichischen Grundrechtskatalog. Denn die öffentliche Hand müsste vielfältige Gewährleistungen für den allgemeinen Zugang zu den verschiedenen Naturgütern schaffen, Vorkehrungen gegen Missbräuche treffen und auch aktive Infrastrukturmaßnahmen setzen. Eine bloße textliche Verankerung eines Grundrechts in der Verfassung wird wohl zu wenig sein.

Mit der Schaffung dieses neuen Grundrechts werden Grundrechtskollisionen unvermeidlich sein. Denn dieses Grundrecht wird zweifellos mit den Grundrechten auf Unverletzlichkeit des Eigentums, der Erwerbsfreiheit und dem Schutz der Privatsphäre in Konflikt kommen. Dies wird sicherlich Beschränkungen des Naturzugangs rechtfertigen, diese müssen aber im Wege von Abwägungsentscheidungen beide Grundrechtspositionen bestmöglich wahren.

Die Inhalte des Grundrechts

Zunächst muss das Grundrecht präzisiert werden: Geschützt werden soll das Recht, Naturräume und Landschaften zu Erholungszwecken oder aus Gründen der Wissenschaft und Bildung zu betreten und sich dort aufzuhalten. Die Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten in der Natur ist davon nicht erfasst – diese sind ohnehin bereits durch bestehende Grundrechte geschützt.

Naturräume und Landschaften stellen jene Räume dar, die als freie Natur bezeichnet werden sollen. Das Grundrecht soll sich auf das Betretungsrecht des alpinen Ödlandes, die Almregionen, Wälder, Steppenlandschaften, stehende und fließende Gewässer, einschließlich der Uferflächen sowie auf Kulturlandschaften außerhalb der Vegetationsperiode, soweit dies die landwirtschaftliche Nutzung zulässt, beziehen. Private Gärten und Parks, Abstandsflächen zu Gebäuden zum Schutze der Privatheit, Landwirtschaftsflächen während der Vegetationsperiode, Sportstätten u.ä. bleiben selbstverständlich außerhalb der Grundrechtsverbürgungen.

Nun soll nicht jede Freizeitgestaltung in der freien Natur grundrechtlich geschützt werden, sondern nur „sanfte“ Formen: Gehen, Laufen, Radfahren, Schifahren, Rodeln, Reiten, Schwimmen sowie maschinell antriebsfreie Wasserfahrzeuge und vergleichbare umweltschonende Aktivitäten. Ob E-bikes, Sportwettkämpfe u.a. darunter fallen, wird im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens noch zu diskutieren sein. Zu den grundrechtlich geschützten Tätigkeiten soll auch die Aneignung wildwachsender Pilze, Beeren, Kräuter und Pflanzen (ausgenommen naturgeschützte) für den Eigenbedarf im ortsüblichen Umfang zählen – Rechte, die im Forstgesetz schon derzeit garantiert sind. Alle diese Rechte dürfen nur mit größtmöglicher Schonung von Natur und Umwelt wahrgenommen werden. Damit soll schon im Text klargestellt werden, dass dieses Grundrecht kein Freibrief für rücksichtsloses Verhalten in der Natur sein kann, sondern Verantwortung für Mitmenschen, Tiere, Pflanzen und sonstige Umweltgüter mit sich bringt. Diese Verpflichtung kann dann auch durch Verhaltensregeln von Behörden und Waldeigentümer:innen konkretisiert werden.

Das Grundrecht steht unter Gesetzesvorbehalt: Der Gesetzgeber darf dieses Grundrecht einschränken, wenn dies zur Wahrung öffentlicher Interessen nötig ist. Aber nicht jedes beliebige öffentliche Interesse soll Beschränkungen rechtfertigen, sondern nur die Gefährdung der Schutzgüter Leben, Gesundheit, Eigentum, Sicherheit von Menschen, Tieren, Pflanzen, sowie die Interessen der Land- und Forstwirtschaft sowie des Umweltschutzes. Auf Grund dieser Gesetze können dann Behörden die konkreten Verbote oder Beschränkungen im Einzelfall verhängen. Sollte der Vorschlag realisiert werden, ist wohl damit zu rechnen, dass die schon bestehenden zahlreichen Beschränkungen in den verschiedensten Bundes- und Landesgesetzen weiterhin aufrecht bleiben werden. Allerdings müssen auch diese im Falle einer Gesetzesanfechtung einer verfassungsgerichtlichen Prüfung auf ihre sachliche Rechtfertigung und ihre Verhältnismäßigkeit standhalten.

Es wird wohl auch im Falle der Realisierung dieses Grundrechtsvorschlags die Möglichkeit geben müssen, dass private Grundeigentümer, gestützt auf ihre Grundrechte auf Unverletzlichkeit des Eigentums, der Erwerbsfreiheit und auf Schutz der Privatsphäre das freie Betretungsrecht beschränken können. Hierbei sind vielfältige Gründe denkbar, die dies sachlich rechtfertigen könnten. Allerdings enthält das Grundrecht ein Willkürverbot, das der freien Ausübung des Eigentumsrechts Schranken setzt. In Anlehnung an eine Formulierung in der Bayrischen Landesverfassung wird vorgeschlagen, dass Betroffene also von den Beschränkungen vom Zugang 
zur Natur ausgeschlossene Menschen, einen Antrag an die Behörde stellen können, die die sachliche Rechtfertigung der Beschränkungen an den Kriterien des Schutzes der Privatheit, der Abwehr von Schäden und Belästigungen überprüft und über deren Rechtmäßigkeit entscheidet. Zur näheren Ausgestaltung dieses Verfahrens wird die Erlassung eines speziellen Gesetzes erforderlich sein.

Der Vorschlag enthält eine spezielle Rechtsschutzgarantie. Jedermann, ob Naturnutzer:in oder Grund- oder Waldeigentümer:in hat im Falle der Betroffenheit von Beschränkungen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Dies hat die Gesetzgebung zu gewährleisten.

Schließlich enthält der Grundrechtsvorschlag noch eine Verpflichtung aller Gebietskörperschaften zur Sicherstellung des Grundrechts, wozu auch Infrastrukturleistungen unter Berücksichtigung der Menschen mit Behinderung genannt werden.

Die Durchsetzung des Grundrechts

Ein Grundrecht auf Naturzugang bindet zunächst die Gesetzgeber von Bund und Ländern. Gesetze, die den Naturzugang verbieten, unterliegen der Gesetzeskontrolle durch den VfGH. Bei der Prüfung der Grundrechtskonformität eines Gesetzes kommt diesem ein weiter Interpretationsspielraum zu, zumal weder die Europäische Menschenrechtkonvention noch die Europäische Grundrechtecharta ein solches Recht kennen. Welchen Stellenwert der VfGH dem neuen Grundrecht in einer Abwägung mit anderen Grundrechten einräumt, lässt sich kaum abschätzen. Davon hängt aber die Wirksamkeit dieses Grundrechts wesentlich ab. Ähnliches gilt für die Beurteilung von Verwaltungsakten und privatrechtlichen Beschränkungen durch Behörden, Verwaltungsgerichte und auch die ordentlichen Gerichte. Da die Beurteilung der Zulässigkeit von Zugangsbeschränkungen zur Natur stets Interessensabwägungen voraussetzt, die ihrerseits stark vom Werteverständnis der entscheidenden Organe abhängen, sind Prognosen über die Zukunft einer freien Zugänglichkeit zur Natur kaum seriös möglich.