Politik
„Omnibus“: Vorfahrt Deregulierung
Die erste Amtszeit von Ursula von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission von 2019 bis 2024 war geprägt von wegweisenden Vorhaben und Gesetzen. Mit dem Green Deal sollte eine bessere Vereinbarkeit unternehmerischer Aktivitäten mit Mensch, Umwelt und Klima erreicht werden. Doch mit Beginn ihrer zweiten Amtszeit deutete sich eine Kehrtwende in der Nachhaltigkeitspolitik an. Anfang 2025 wurden die ersten (mehrerer) „Omnibus“-Pakete angekündigt, die laut EU-Kommission den Verwaltungsaufwand verringern und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit steigern sollen. Dieses Vorhaben ist demokratiepolitisch fragwürdig und ein Kniefall vor der Wirtschaftslobby.
Die viel zitierte Wettbewerbsfähigkeit
Die aktuelle EU-Politik wird vom Begriff Wettbewerbsfähigkeit bestimmt. Zu Jahresbeginn wurde der „Kompass für Wettbewerbsfähigkeit“ vorgestellt. Er soll dazu dienen, den Wohlstand zu sichern und die Wirtschaft in der EU zu stärken. Durch die Rechtsanpassungen im Zuge des „Omnibus“-Vorhabens soll ein günstiges Geschäftsumfeld geschaffen und darauf geachtet werden, dass Unternehmen nicht mit Regelungen überfrachtet werden. Als Ziel der ersten „Omnibus“-Initiativen wurde angekündigt, dass „überschneidende, unnötige oder unverhältnismäßige Vorschriften“ vereinfacht oder gestrichen werden sollen. Dadurch soll der Verwaltungsaufwand für Unternehmen in den nächsten Jahren um mindestens 25 Prozent verringert werden (für kleinere und mittlere Unternehmen sogar um 35 Prozent).
Was auf den ersten Blick wie eine Vereinfachung aussehen mag, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als weitreichende Deregulierung, die sinnvollen Schutz von Arbeitnehmer:innen und Umwelt aushebelt. Anstatt etwaige Doppelgleisigkeiten aufzulösen, wird massiv in die Wirksamkeit der Rechtsinstrumente eingegriffen. Unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit werden die Anwendungsbereiche sinnvoller Regulierungen aufgeweicht, Fristen verzögert und wichtige Elemente gestrichen. Diese Deregulierungen erzeugen zwar einen Wettbewerb – aber einen nach unten! Der Begriff Wettbewerbsfähigkeit wird zum Totschlagargument, um umwelt- und sozialpolitische Regulierungen infrage zu stellen. Der Begriff „Vereinfachung“ dient der Tarnung für den gezielten Abbau dieser Schutzstandards.
Startschuss „Omnibus“
Am 26. Februar 2025 wurden die ersten beiden „Omnibus“-Pakete veröffentlicht. In diesen werden mehrere Rechtsanpassungen in einem Gesetzesvorschlag gebündelt, die Instrumente des Green Deals zur Bekämpfung der Klimakatastrophe enthalten. Neben der Europäischen Lieferkettenrichtlinie ist unter anderem auch die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung betroffen, die das Ziel hat, Auswirkungen der Aktivitäten eines Unternehmens hinsichtlich der Umwelt, der Arbeitsbedingungen und der Gesellschaft transparent zu machen. In beiden Fällen ist bereits die Verschiebung des Anwendungsbeginns beschlossen: bei der Nachhaltigkeit um zwei Jahre, bei den Lieferketten um ein Jahr.
Weitere inhaltliche Änderungen, die noch stärker in die Wirksamkeit eingreifen, werden derzeit noch verhandelt. So soll der Anwendungsbereich bei der Nachhaltigkeits-Berichterstattung stark eingeschränkt werden. Demnach sind nur noch Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und entweder 50 Millionen Euro Umsatz oder 25 Millionen Euro Bilanzsumme berichtspflichtig. Somit fallen rund 80 Prozent der Unternehmen aus der ursprünglichen Regelung heraus, wodurch das Gesetz an Durchschlagskraft verliert.
Ein weiterer „Omnibus“ befasst sich mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), wo es ebenso weniger Regulierungen und Kontrollen geben soll. Ein anderer soll die Regeln im Binnenmarkt anpassen und dazu eine neue Unternehmenskategorie einführen: „Small MidCaps“ sind Unternehmen mit weniger als 750 Beschäftigten und einem Umsatz von höchstens 150 Millionen Euro bzw. einer Bilanz von 129 Millionen Euro. Unternehmen dieser Kategorie müssen in Zukunft weniger Berichtspflichten vorlegen. Weitere Initiativen betreffen Verteidigung und militärische Mobilität sowie Umwelt, Chemikalien und Lebensmittelsicherheit. Auch hier sollen Regulierungen aufgeweicht oder gestrichen werden.
Lieferkettengesetz
Das Lieferkettengesetz war über viele Jahre ein Kernanliegen verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteur:innen mit dem Ziel, ausbeuterische Wirtschaftsweisen auf globaler Ebene grundlegend zu verändern. Es wurde demokratisch erkämpft und ist im Juli 2024 endlich in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten sollten es bis 2026 in nationales Recht umsetzen, um die Konzerne ab dem Jahr 2027 in die Pflicht zu nehmen.
Auch beim Lieferkettengesetz werden weitere Änderungen mit gravierenden Folgen verhandelt, denn der „Omnibus“ sprengt genau jene Eckpfeiler, die echte Verbesserungen für Klimaschutz, Arbeitsbedingungen und Menschenrechte bringen würden:
- Unternehmen tragen nicht mehr für ihre gesamte Lieferkette die Sorgfaltspflicht, sondern grundsätzlich nur noch für ihre direkten Geschäftspartner:innen.
- Die Unternehmen müssen ihre gesetzten Maßnahmen künftig nur noch alle fünf Jahre statt jährlich kontrollieren.Mit der Streichung der harmonisierten zivilrechtlichen Haftung wird Opfern und Hinterbliebenen der Zugang zur Justiz massiv erschwert.
- Die Einschränkung der Stakeholder-Konsultation beschneidet die Einbeziehung von NGOs.
Diese Änderungen hebeln den Kern der Lieferkettenrichtlinie völlig aus. Schließlich finden die schwerwiegendsten Verstöße gegen Menschenrechte und Umweltschutz überwiegend in den ersten Stadien der Lieferketten statt, etwa beim Rohstoffabbau oder in der Textilindustrie. Wenn Unternehmen diese vorgelagerten Stadien nicht kontrollieren und die dortigen Maßnahmen seltener evaluieren, werden Verstöße nicht erkannt.
Betroffenen von Ausbeutung und schlechten Arbeitsbedingungen wird der Zugang zur Justiz erschwert und sie können Entschädigungen nur schwer einfordern. Die Rana-Plaza-Katastrophe verdeutlicht dies:
Beim Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza am 24. April 2013 wurden 1.134 Menschen getötet und rund 2.500 Menschen verletzt. Die Katastrophe stellt einen Tiefpunkt unternehmerischer Verantwortung dar, denn es gab bereits lange Sicherheitsbedenken wegen der Umwidmung des Geschäftsgebäudes zu einer Fabrik. Obwohl Risse im Gebäude entdeckt wurden und akute Einsturzgefahr bestand, wurden die Näher:innen zur Arbeit in der Fabrik gezwungen. Sie produzierten dort Waren für Primark, C&A, KiK und andere. Nur wenige Unternehmen haben sich an Kompensationszahlungen für Opfer und Angehörige beteiligt. Der Zugang zu diesen Zahlungen war äußerst kompliziert. Viele Menschen warten weiterhin auf Gerechtigkeit. Ein wirksames Lieferkettengesetz könnte Katastrophen dieser Art verhindern oder den Geschädigten zumindest angemessene Entschädigungen bieten. Dass durch den „Omnibus“ Gesetze wie das Lieferkettengesetz mit Verweis auf überbordende Bürokratie abgewürgt werden, obwohl damit echte Verbesserungen für Menschen, Klima und Umwelt erreicht werden könnten, ist somit ein großer Rückschritt.
Undemokratische Prozesse
Doch nicht nur die Deregulierungsagenda der Kommission sollte kritisch hinterfragt werden. Auch die Art und Weise, wie die „Omnibus“-Initiativen ablaufen, ist besorgniserregend, da sie in auffälliger Weise von den bekannten demokratischen Prozessen der EU abweichen. So hat die Kommission bei der Erarbeitung des „Omnibus’“ weder eine öffentliche Konsultation noch eine Folgenabschätzung durchgeführt und somit ihre eigene Agenda für „bessere Rechtsetzung“ missachtet. Die unterlassene Durchführung einer öffentlichen Konsultation verletzt zudem das Recht auf Beteiligung an Entscheidungsprozessen der EU. Selbst innerhalb der Kommission wurden betreffende Dienststellen mit einer Konsultationsfrist von nur 24 Stunden an einem Wochenende überrascht. Anfang Februar, also kurz vor Vorstellung der fertigen „Omnibus“-Initiative, wurde lediglich zu einem sogenannten „Realitätscheck“ geladen. Den 50 Vertreter:innen der Wirtschaft saßen dort zwei Gewerkschafter:innen gegenüber.
Zudem stellt die Kommission im „Omnibus“ selbst fest, dass es für eine Evaluierung der betroffenen Instrumente noch zu früh sei. Wie konnte dann aber evaluiert werden, welche Bestimmungen „unnötig oder unverhältnismäßig“ sind? Fest steht: Anstatt etwaige Doppelgleisigkeiten aufzulösen, wird massiv in die Wirksamkeit der betroffenen Instrumente eingegriffen – zulasten ihres Schutzniveaus insbesondere für Beschäftigte und Verbraucher:innen. Der unklare Kurs führt zudem zu mehr Rechtsunsicherheit und schadet auch den Unternehmen, die sich bereits intensiv auf neue Regelungen vorbereitet haben.
Wünsche der Industrie werden erhört!
Nach einer Amtszeit der Kommissionspräsidentin von der Leyen, die von Vorhaben geprägt war, hohe Umwelt- und Sozialstandards festzulegen, folgt nun also eine Abkehr von diesen Vorhaben. Die Lockerungen, Vereinfachungen und Deregulierungen sind Folgen eines intensiven Lobbyings der Wirtschaftsvertreter:innen. Bereits Anfang 2024 hatten führende Industrievertreter:innen in der Antwerpener Erklärung einen „Omnibus“ gefordert, um Korrekturen an Verordnungen vorzunehmen. Ihre Wünsche wurden erhört. Die mächtigen Industrie- und Wirtschaftsverbände Deutschlands, Italiens und Frankreichs jubeln gemeinsam mit der österreichischen Industriellenvereinigung darüber.
Unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit und vor dem Hintergrund des aktuellen geopolitischen Chaos finden die Lobbyist:innen aus Industrie und Wirtschaft bei der EU-Kommission ein offenes Ohr für ihre Deregulierungsagenden. Der „Omnibus“ löst einen Wettbewerb nach unten aus, stellt eine ernsthafte Gefahr für den Green Deal und die Nachhaltigkeitsziele der EU dar und markiert einen Bruch der bisher gelebten demokratischen Grundsätze und Spielregeln. Die Europäische Kommission sollte jedoch nicht vergessen, dass sie dem Gemeinwohl und nicht den Zurufen einzelner Lobbygruppen verpflichtet ist.